Kinder optimal fördern – mit Musik

Die Bilanz, dass Kinder der musikbetonten Grundschulen ihren Vorsprung im Merkmal “musikalische Begabung/ Leistung/ Kreativität” im Verlauf ihrer Grundschule im Vergleich zu Kindern der Kontrollgruppe signifikant steigern können, bedeutet, dass diese “Musikalisierung” in ein und demselben Lernprozess zugleich all jene Persönlichkeitsvorteile fördert, die die Studie als überzufällige Transfereffekte nachweisen kann. Somit liegt ein positiver, sich selbst verstärkender Zirkel vor.

5. Angst – Emotionale Labilität: Die meisten Kinder können, und dies unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit, überdurchschnittliche Angstwerte im Verlaufe ihrer Grundschulzeit erfreulicherweise deutlich abbauen. Dies spricht zugleich für ein vertrauensvolles Schulklima. Schüler der Kontrollgruppe glauben jedoch von sich selbst, über die Zeit hinweg eher ängstlicher geworden zu sein, während Kinder der Modellgruppe meinen, allgemeine Ängste besser reduzieren zu können.

Musik kann demnach zu einem emotionalen Refugium werden, gerade und insbesondere in der Phase der beginnenden Pubertät mit all ihren Identifikationsproblemen. Welch hohe sozialtherapeutische Funktion der Musik zukommt, wissen wir aus nahezu allen Jugendkulturen. Jugend und Musik sind in ihnen eine Lebenseinheit, Musik wird zum integralen Lebensexistential.

Dies bedeutet in positiver Interpretation: Instrumentlernen und Musizieren “neurotisiert” unsere Kinder trotz Übens, musikalischer Leistungserwartung und öffentlichem Musizieren nicht auffällig oder gar bedeutsam. Sie leiden nicht unter stärkeren Angstsymptomen oder ausgeprägter emotionaler Labilität (“Neurotizismus”), die in Untersuchungen mit Berufsmusikern immer wieder repliziert wurden.

6. Allgemeine Schulleistungen: Musikbetonung bedeutet an Berliner Grundschulen für alle Schüler zusätzliche Zeitinvestitionen bis in die Nachmittagsstunden, so im Erlernen eines Instrumentes, im Üben, im Ensemblespiel oder in der Vorbereitung von Aufführungen.

Empfehlungen

Ein geradezu sensationelles und für Eltern/Erziehungsberechtigte wichtiges Ergebnis: Der erhebliche Zeitaufwand geht ganz eindeutig nicht zu Lasten der allgemeinen schulischen Leistungen. Zu keinem Erhebungszeitpunkt sind die Leistungen der Kinder aus der Modellgruppe in den sogenannten “Hauptfächern” schlechter als die der Kinder aus der Kontrollgruppe.

Der prozentuale Anteil der Kinder mit überdurchschnittlich guten Leistungen ist in der Modellgruppe oftmals höher als in der Kontrollgruppe. Dies gilt für die Fächer Mathematik, Deutsch und Englisch. Hier bestätigen wir Ergebnisse, wie sie auch in der sogenannten Schweizer Studie vorliegen(4).

Daraus ist für Eltern und Erzieher stringent zu folgern: Lasst Eure Kinder musizieren, trotz und gerade wegen schulischer Durststrecken! Ein Abmelden vom Instrumentalunterricht wäre für die kindliche Entwicklung in kognitiver und emotionaler Hinsicht geradezu kontraproduktiv!

 

Was folgt daraus?

Fachpolitische Konsequenzen: Ergebnisse und Erkenntnisse dieser Studie fordern eine engagierte(re) Bildungs- und Schulpolitik, die in unseren allgemein bildenden Schulen das Fach Musik vom Rand in die Mitte (H. R. Laurien) rückt und eine Kulturpolitik, die das förderliche Umfeld der Laienmusik stärker als bisher anerkennt und demzufolge auch fördert.

Das muss zunächst heissen: Alle Schüler erhalten in allen Bundesländern neben einem mindestens zweistündigen Musikunterricht die Chance, in der Schule ein Instrument (wenn möglich ihrer Wahl) zu erlernen und in einem Ensemble in oder ausserhalb der Schule zu musizieren.

Die Folge kann sein: Aus dem schulischen Musizieren wird ein privates Musizieren, das eine ganze Familie infizieren kann. Wir warten also ungeduldig auf den Musik-Virus in unseren allgemein bildenden Schulen, die den Nährboden bereiten für das Musizieren in unseren Familien und Laienmusikvereinen.

Empfehlungen

Den Autor würde es freuen, wenn alle Kultusminister die Ergebnisse und Erkenntnisse der Studie “Musikerziehung und ihre Wirkung” (Schott Verlag, Mainz) für gute Argumente gegen kulturabstinente Finanzminister (= Sparminister) nutzen könnten.

 

Plädoyer für Musik!

Die schlichte Botschaft lautet daher: Politiker, Eltern, Lehrer, lasst unsere Kinder musizieren! Und sie tun dies nicht um der sozialen oder kognitiven Nebenwirkungen wegen, sondern ausschließlich um ihrer selbst willen, aus Freude an der Musik und an der eigenen Begabung.

Musik hat ihren primären Wert nur in sich selbst, sie ist als ästhetische Erfahrung absolut zweckfrei, ja ganz nutzlos. Und genau das macht sie so wertvoll! (nach Oscar Wilde). Wo immer wir Kinder fordern und fördern wollen, wo immer wir Verantwortung für ihre Entwicklung tragen, sollte Musik mit ihrem Geist-, Gefühls-, Kreativitäts- und Sozialpotential ins Spiel kommen. Wir brauchen sie, die Musik, heute dringender denn je!

Quellen
(1) Hans Günther Bastian: Musikerziehung und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen, Mainz: Schott Musik International 2000, unter Mitarbeit von Adam Kormann, Roland Hafen, Martin Koch; eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse ist als Taschenbuch erschienen: Hans Günther Bastian: Kinder optimal fördern – mit Musik, Atlantis – Schott, Mainz 2001

(2) Modellgruppe = Klassen mit erweiterter Musikerziehung/ Kontrollgruppe = Klassen mit konventionellem Musikunterricht

(3) Vgl. u.a. die Beiträge von H. Petsche, E. Altenmüller/W. Gruhn/D. Parlitz in: Scheidegger, J./Eiholzer, H.: Persönlichkeitsentfaltung durch Musikerziehung, CH-Aarau 1997; W. Gruhn: Der Musikverstand, Hildesheim 1998; H. Petsche (Hrsg.): Musik-Gehirn-Spiel, Basel 1989; M. Spitzer: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, Stuttgart New York 2002; vgl. auch die Forschungsarbeiten von M. Hassler, N.Bierbaumer, G. Schlaug u.a. (siehe ausführliche Bibliografie in der Studie: Musik(erziehung) und ihre Wirkung).

(4) Weber, E. W./Patry, J.-L./Spychiger, M.: Musik macht Schule, Essen 1993.

Empfehlungen

Autor
Professor Dr. Hans Günther Bastian
Goethe-Universität Frankfurt
Institut für Musikpädagogik