Der Reisende und der Straßenräuber

1. Einst wollt ein Mann in seine Heimat reisen,
Er sehnte sich nach seinem Weib und Kind.
Wollt’ ihnen dann als edler Mann beweisen,
Daß sie für ihn sein Glück und alles sind.
Kaum tat er so auf freier Straße gehn,
Als ihn ein Räuber plötzlich überfiel,
Und sprach zu ihm: »Halt! bleib vor mir stehen,
Gib mir dein Geld, ich weiß, du hast sehr viel.«

2. Da sprach der Mann: »Das würd’ Euch wenig nützen,
Ich habe nichts als mein bißchen Leben,
Denn würde ich den kleinsten Schatz besitzen,
So würd’ ich ihn Euch wirklich gerne geben.«
Der Räuber sprach: »Dein Leben ist verloren«,
Und setzte ihm den Dolch an seine Brust,
»Gib mir dein Geld, sonst will ich dich durchbohren
Denn du bist reich, daß ist mir wohl bewußt!«

3. »Ach«, sprach der Mann, »schenkt mir diesmal das Leben
Verschonet doch zu Haus mein Weib und Kind,
Gott wird daher euch Glück und Segen geben.«
Der Räuber sprach, durch das ergrimmt geschwind:
»Ich schwöre dir’s bei meiner armen Seele,
Ich morde dich, so wahr ich Räuber bin;
Glaub’ nicht, daß ich mit dir mich lange quäle,
Du fährst mir nicht leicht durch den Sinn.«

4. Da sprach der Mann in wehmutsvollem Tone:
»Wohlan, so nehmet das teure Leben mir,
Du großer Gott auf deinem Himmelsthrone,
Steh’ du mir bei, in meinem Tode hier!
Nun Räubersmann, laß mich nicht lange leiden,
Ermorde mich und triff das Herz recht gut;
Ich öffne dir selbst meine Brust mit Freuden,
Vergieße nun aus Habsucht Menschenblut.«

5. Der Räuber bleibt vor ihm betroffen stehen,
Und sprach: »Ich hab’ zum Morden keine Lust.
Doch halt, was muß ich bei dir sehen,
Was hängt allhier an deiner Brust?«
»Ein Bild«, so sprach der Mann mit Würde,
»Es ist das Bildnis meiner Mutter hier.«
Der Räuber sah es an voll Begierde,
Und schrie: »Mein Bruder steht vor mir!«

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6. »Wär’s möglich«, sprach der Mann in höchster Freude,
»Du solltest hier mein teurer Bruder sein?«
Und küßte ihn, dann küßten sie sich Beide.
Der Räuber sprach: »Nun bist du wieder mein.
Zehn Jahre hab ich dich nicht gesehen;
Du bist so arm, bist doch ein edler Mann.
Und ich muß hier als Räuber vor dir stehen,
Ach großer Gott! Was habe ich heute getan!«

7. Sein Bruder sprach zu ihm gerührt und bieder:
»Laß diese Tat uns ganz vergessen sein,
Wir lieben uns als Brüder herzlich wieder.«
Der Räuber schwur bei hellen Sonnenschein,
In Zukunft sich der Redlichkeit zu weih’n,
Und so zu leben wie Gottes Wille ist.
Sein Bruder sprach: »Dann wird dir Gott verzeihen,
Wird segnen dich, weil du gebessert bist.«